
Wir hilft – Schreiben auch
Wir hilft im Gespräch mit Karolina De Valerio vom Münchner Bündnis gegen Depression. Wir fragen nach, wie sie den Weg zum Schreiben fand. Wie es ist, eine schreibende Selbsthilfegruppe zu leiten und welche Tipps beim Einstieg ins Schreiben helfen können. Ein Interview, das wiederholt zeigt, wie vielfältig Selbsthilfe ist.
Wir hilft: Wie bist Du zum Münchner Bündnis gegen Depression gekommen? Und wie zum Schreiben?
Karolina: Erst kam das Schreiben, dann das Bündnis. 1992 bin ich das erste Mal schwer erkrankt. Das hat mit dazu beigetragen, dass ich angefangen habe zu schreiben. Auch vorher habe ich immer wieder lose geschrieben, aber vor allem war Schreiben für mich lange Arbeit. Heute sehe ich, dass ich unter dem naturwissenschaftlichen Schreiben meiner Doktorarbeit auch sehr gelitten habe. Weil ich so im luftleeren Raum geschrieben habe. Ohne Anbindung an die Uni. Nur mit mir und der Bibliothek oder dem Zimmer. Schon damals habe ich mir eigentlich heimlich gewünscht, einen Roman zu schreiben. Aber da kam diese Stimme die sagte “Nein Karolina, das kannst Du nicht!”
2012 habe ich am ersten EX-IN Kurs in München teilgenommen (dabei werden Betroffene darin ausgebildet, anderen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zur Seite zu stehen, Anm. d. Red.). Dort habe ich erste Texte gelesen. Und immer häufiger geschrieben. Und auch Feedback von den Kursteilnehmern bekommen. Richtig zum Schreiben bin ich über das Psychose-Seminar gekommen. Ich wollte wissen, wie Trialog geht und hatte das Glück, in die Schreibgruppe zu kommen. Dort habe ich regelmäßig zu bestimmten Themen geschrieben.
Auch das Thema Roman hat mich immer weiter begleitet. Noch vor dem EX-INKurs habe ich einen neuen Anlauf gewagt und mir gesagt “Das ist völlig egal ob es zu irgendwas führt.” Zu sagen, ich schreibe an einem Roman, ich mache das jetzt, ist mir sehr schwer gefallen und hat sehr viel Mut und Überwindung gekostet. Ich habe mich geschämt. Aber zum Glück hat immer das Kreative, das Schöpferische überwogen. Inzwischen habe ich etwa 180 Seiten geschrieben. Und dann gibt es da kürzere, gedichtartigere Texte. Sowie ganz langsam erste Bestrebungen in Richtung Autorin oder Schriftstellerin zu gehen. Ich habe mich für ein Literaturstipendium beworben, bin inzwischen in einem Dichterkreis mit dem wir auch schon eine erste Lesung hatten – dort spielt mein “Psycho”-Hintergrund gar keine Rolle.
Das Schreiben hat Dir also auch in der Bewältigung und im Umgang mit der Krankheit geholfen? Würdest Du sagen, es war für Dich (D)eine Art von Selbsthilfe?
Ja, das würde ich schon sagen. Ich habe auch gestaunt, als ich in der Wohnung mal alle Ecken abgesucht habe in denen Sachen rumlagen, die ich geschrieben habe. Da hab ich Texte gefunden, in denen ich versucht habe, mich der Welt zu erklären. Oder vielleicht mir mich selbst zu erklären, in denen ich mich gerechtfertigt habe. Und dann gab es Texte, in denen ich mich nicht mehr gerechtfertigt habe, mich nicht mehr rechtfertigen musste. Ich war erstaunt, wie früh ich schon so klar diese Texte geschrieben hab. In denen ich mir klar gemacht hab, dass es an mir selber liegt. Dass ich mich also auch selber nicht akzeptiere. Ich habe gemerkt, wie früh ich manche Problempunkte schon ganz klar erkannt habe. Und wie lange es gedauert hat, bis ich sie lösen konnte.
Was hilft Dir außer dem Schreiben noch?
Meine Basisarbeit besteht ja sozusagen darin, dass ich Menschen begleite. Sie immer wiedertreffe, in der Telefonberatung höre oder beim Stammtisch sehe. Dieser Teil ist mir schon auch sehr wichtig. Das Geben und Nehmen. Dass meine Arbeit Sinn ergibt, sie vielfältig ist, ich nicht ständig hinterfragen muss bedeutet mir sehr viel. Dass ich meine Krisen authentisch nutzen kann. Indem ich für andere der Türöffner bin. Oder wie sie im Englischen sagen der “Holder of Hope” – auf Deutsch wohl am ehesten Vorbild, aber das klingt mir zu altmodisch. Meine Stelle hier beim MBgD ist ja auch eine ganz besondere. Sonst gibt es EX-IN nur in Tagesstätten, SpDis und Kliniken. Ich hoffe und wünsche mir, dass bald der Durchbruch kommt. Dass mehr Profi-Stellen kapieren, wie wichtig Betroffene für ihre Patienten sind. Betroffene, die gut reflektiert und sich über ihr Leben und ihre Erfahrungen ausgetauscht haben.
Was würdest Du anderen Menschen, die schreiben wollen, raten?
Der beste Tipp ist, das weiße Blatt Papier und den Stift immer griffbereit zu haben. Während meiner Krankheit habe ich selber oft versucht, jemanden anzurufen. Aber die Menschen waren beschäftigt oder in der Arbeit und ich konnte das Problem mit niemandem besprechen. Wenn ich es dann geschafft habe, was aufs Papier zu schreiben, konnte ich es verobjektivieren, Distanz dazu gewinnen. Und beim Schreiben hat sich manches schon gegliedert und gelöst, indem ich es sozusagen wegschreiben konnte.
Was ich auch super finde ist, die Beobachtungsgabe zu schärfen. Ich selber gehe auch mit meiner Schreibwerkstatt raus in die Natur. Oder auch für mich: ich setze mich auf den Balkon und versuche zu beschreiben, was ich sehe. Und das ist schwer genug. Im Frühling die verschiedenen Grüntöne zu beschreiben, ist gar nicht so leicht. Das Auge schärfen, den Blick zu trainieren. Auch immer wieder auf dem Balkon sitzen und zuschauen, was hat sich jahreszeitlich verändert.
In der Schreibwerkstatt machen wir verschiedene Übungen zum Aufwärmen. Assoziationsketten oder man macht eine Art Mindmap auf dem Papier um verschiedene Gedanken vorzusortieren und zu sehen, was einem einfällt zum Thema. Oder man fängt einfach an mit “Wenn ich an Ernte denke, dann…”. Diese Übungen kennen alle, die zu mir in die Schreibwerkstatt kommen.
Nun hast Du die Schreibwerkstatt schon erwähnt, was genau kann ich mir darunter vorstellen?
Ich hab dieses Format quasi vom Psychose-Seminar mitgenommen. Um meine eigene Rolle zu klären, habe ich mir eine Supervision geholt. Denn als Betroffene habe ich eine andere Rolle als Profi, der ich ja auch sein könnte, weil ich Germanistik studiert habe und selber schreibe. Mir ist aber die Betroffenen-Rolle wichtiger. Und es soll auch eine Selbsthilfegruppe sein. Es geht nicht darum, möglichst literarisch und gut zu schreiben. Sondern es geht um den Selbsthilfeaspekt. Also wirklich nicht nur die Texte und das Feedback der Teilnehmer, sondern der Austausch über die Inhalte.
Und wenn es jemandem schlecht geht in der Gruppe, wenn jemand etwas erlebt hat oder ein Thema hochploppt, dass dann Zeit ist um das Thema zu besprechen. Das hat dann vielleicht mit Texten nicht mehr viel zu tun, ist aber eben dieser Doppelaspekt – zu schreiben, zu hören, Feedback zu geben. Und sich gleichzeitig auch Hilfe zu holen, bei ganz allgemeinen Themen. Die können mit der Krankheit zu tun haben, aber auch mal nicht.
Wir fangen mit einem gemeinsamen Thema an. Damit das Gruppenelement am Anfang gestärkt wird. Meinetwegen eben “Ernte” oder was jahreszeitliches. Und dann geht’s schon auseinander wie jeder möchte. Wir machen auch möglichst spaßige Sachen. Dass wir uns mit lauter Adjektiven selber vorstellen oder eben Übungen, die mehr das lustige betonen und das humorvolle, damit die Kreativität hochkommen kann. Und keiner macht irgendwas falsch. Die Feedbacks sind sehr vorsichtig.
Seit wann gibt’s die Schreibwerkstatt schon? Wie viele Teilnehmer gibt es und wie läuft die Anmeldung?
Tatsächlich gibt es unsere Schreibwerkstatt schon seit 2014. Wir haben ein Staffelsystem. Nach acht bis zehn Terminen machen wir eine Pause. Die Treffen finden alle 14 Tage statt und dauern zwei Stunden. Wenn eine Runde vorbei ist, dann können sich Leute, die schon mal da waren, auch wieder melden. Es kommen dann aber auch neue hinzu. Damit die Gruppe sich nicht komplett schließt. Mittlerweile bin ich bei den Anmeldungen auf 15 rauf gegangen. Die Erfahrung zeigt, dass drei bis vier doch wieder gehen. Weil was dazwischen kommt oder eine Krise kommt oder es doch nicht das richtige ist. Manche sind ja dann auch nicht bei jedem Termin dabei, so dass es am Ende pro Termin um die zehn Teilnehmer sind.
Wer Interesse hat, der meldet sich also an. Dann kommt man zum Schnuppern. Und wir haben auch eine Warteliste. Ich versuche den Leuten auch Mut zu machen, dass wenn es doch nicht das richtige ist, sie sich einfach wieder abmelden. Oder wenn sie nicht können, müssen sie mir nicht tausendfach erklären warum. Oder wenn es jemandem nicht gut geht versuche ich auch mal zurückzurufen und nachzufragen. Das gehört für mich dazu
Könntest Du Dir auch den Besuch einer nicht-schreibenden Selbsthilfegruppe vorstellen?
Bisher habe ich damit keine Erfahrungen gemacht. Das Medium Schreiben ist etwas Besonderes. Vor allem in der Gruppe. Ob auch in anderen Gruppen die Kreativität so sehr angeregt wird, weiß ich nicht. Für mich ist dieser kreative Moment aber etwas ganz entscheidendes. Dass ich mehr Herrin meiner selbst werde in den Texten, das ich als eigenständige Autorin neben anderen Autoren sein darf. Dazu macht das Schreiben die Entwicklung der Teilnehmer so deutlich. Manche, die schon lange dabei sind, werden mit der Zeit immer besser. Ihre Texte dichter und griffiger. Und das sage ich ihnen auch. Das ist toll, quasi durch die Krankheit solche Erfolgserlebnisse zu haben.
Oder wenn wir dann am Ende der Staffel zusammen eine Lesung machen. Oder mal bei der Woche der Seelischen Gesundheit auf der offenen Bühne lesen. Da sind viele dann sehr aufgeregt und ich höre oft “Oh je, ich trau mich nicht”. Wir machen eine Generalprobe um die Nerven zu beruhigen. Und nach dem Auftritt erleben die Teilnehmer dann, was sie für eine tolle Resonanz bekommen. Es tut ihnen richtig gut, sich dieses Stück hinaus zu wagen und zu lesen. Diese Erlebnisse verbinden natürlich auch. Ganz toll war zum Beispiel als wir bei den Kulturtagen im Westend gelesen haben. Und vor unserem Auftritt eine Torte bekommen haben, die wir dann gemeinsam gegessen haben. Diesen Moment werden wir alle wohl nicht so schnell vergessen.
Wenn jemand nun den Beitrag hier liest und selber starten möchte: Hast du Tipps? Nutzt Du Anleitungen? Gibt es ein Manual?
Es war schon viel meine eigenen Erfahrungen, die mir beim Start der Gruppe geholfen haben. Ein richtiges Manual oder eine Anleitung gibt es nicht. Was ich wichtig finde ist, Kommunikationsregeln zu haben. Wie bei vielen Gruppen sind diese auch bei uns an die Themenzentrierte Interaktion (TZI) angelehnt. Manchmal muss ich diese Regeln erklären, weil nicht alle, die zu mir kommen, wissen, dass es darum geht, Ich-Botschaften zu formulieren. Oder darum, Verschiedenheit und andere Blickwinkel zuzulassen und man auch nicht drüber streiten muss. Sondern dass es nebeneinander stehen kann. Und natürlich ausreden lassen und zuhören.
Da der Fokus bei uns ganz klar auf der Selbsthilfe liegt bekommen wir auch Förderung vom runden Tisch der Krankenkassen. Mit dem Geld habe ich zum Beispiel schon einen Flyer erstellt, zusammen mit unserem Grafiker. Und wenn es einfach ums Schreiben geht, wenn jemand literarisch mehr machen möchte, dann gibt es zum Beispiel bei der VHS tolle Kurse. Für beides gilt: Anfangen und machen.
Hast Du denn vielleicht auch einen Buchtipp?
Da bin ich keine Expertin aber ich nutze zum Beispiel einige Bücher von Silke Heimes und habe diese auch für die Schreibwerkstatt angeschafft. Sie ist Professorin für kreatives und therapeutisches Schreiben. Man findet neben ihren Büchern auch andere Arbeiten von ihr im Internet, die man zum Teil kostenlos nutzen kann. Für mein eigenes Schreiben habe ich auch mit einem Fortbildungsbuch von Gabriele L. Rico (“Garantiert schreiben lernen”) gearbeitet und es ebenfalls für die Gruppe angeschafft – leider ist es nur noch antiquarisch verfügbar. Es gibt Übungen und Kapitel zu jedem Aspekt des Schreibens. Und ganz persönlich, ganz weg vom Thema lese ich natürlich auch viel. Meine Lieblingsautoren haben mit Depressionen nicht unbedingt viel zu tun. Tana French ist zum Beispiel mein persönlicher Favorit.
Im Rahmen Deiner Arbeit für das Münchner Bündnis gegen Depression hast Du auch immer wieder Auftritte in der Öffentlichkeit. Warum ist Dir das so wichtig?
In der Tat gibt es heute auch diesen Teil meiner Arbeit, mit dem ich in der Öffentlichkeit stehe und wo ich ganz offen sage “So ist es”. Es gibt ein paar Grundsätze in diesem Zusammenhang. Etwa, dass es Dinge gibt, die ich nicht in der Öffentlichkeit sagen möchte. Oder dass ich mir alles vorher anschaue, was erscheinen wird und es sonst auch nicht mache. Aber ich finde es wichtig, dass Menschen sich trauen.
Es ist wichtig immer wieder zu sagen, was für ein enormer Stress so eine Krankheit ist. Das wissen die meisten, die nicht so viel damit zu tun haben, immer noch nicht. Was es bedeutet, nicht mehr auf seine Gefühle, seine Gedanken, auf nichts mehr vertrauen zu können. Es gibt immer noch zu viele die sagen “Ja, die sind halt faul” oder “die vertragen nichts” oder wie halt die schönen Stigmata so sind. Dass sich viele alleine da rauskämpfen und was das für eine Leistung ist, dass wissen dagegen eher wenige. Es ist so wichtig zu sagen “Es gibt ein Leben danach”. Selbst wenn ich noch Beschwerden hab oder ich Medikamente nehmen muss. Die Krankheit kann überwunden werden und für mich hat es sich zu einem super guten Weg entwickelt. Und ich bin jetzt viel geschützter als vorher.
Schreiben ist also nicht das einzige, was mir hilft. Mit meiner Arbeit am Ende dafür zu sorgen, Betroffenen an ganz verschiedenen Punkten mehr Gehör, mehr Stimme, mehr Aufmerksamkeit zu geben – all das, was sie sich selbst nicht geben können.

Dr. Karolina De Valerio studierte Lehramt (Deutsch und Religion) und promovierte in Theologie. Im Übergang zum Lehramt erkrankte sie schwer an Depressionen, fand aber eine neue Orientierung bei EX-IN und der Arbeit beim Münchner Bündnis gegen Depression. Sie geht offen mit ihrer Erkrankung um. „Ich möchte Hoffnungsträgerin sein für die, welche die Erkrankung nur noch verzweifeln lässt. Ich möchte Mut machen, dass ein Leben mit und nach der Erkrankung möglich ist. Betroffene zu begleiten und zu vertreten, so gut ich kann, ist der grundlegende Sinn meiner Arbeit, die auch Kreativität und Humor einschließt. Im freien Schreiben entdecke ich neue Seiten an mir.“