
Über den Tellerrand: Selbsthilfe und soziale Medien
Letzte Woche haben wir mit Dominique über den Veränderungsbedarf der Selbsthilfe und ihr persönliches Engagement gesprochen. Schön, dass ihr wieder dabei seid! Heute geht es weiter im Text und wir können uns vorstellen, dass ihr bestimmt schon ganz neugierig seid… Nur so viel vorweg: Heute beleuchten wir mit Dominique Selbsthilfe und soziale Medien. Und los geht`s!
WIR hilft: Letzte Woche haben wir schon viel über den Veränderungsbedarf der Selbsthilfe gesprochen. Wie müsste eine Selbsthilfeorganisation aussehen, in der du dich einbringen würdest?
Dominique: Ganz wichtig: Sie müsste über den Tellerrand schauen. Sich immer wieder herausfordern, damit man nicht auf der Stelle stehen bleibt. Sich mit Neuem auseinandersetzen. Immer wieder sich selbst reflektieren. Sich mit Kritikern zusammensetzen. Den Konkurrenzgedanken ablegen. Kontakt zu allen Generationen. Wissen weitergeben. Wertschätzung. Möglichkeiten schaffen, dass jeder sagen kann, was er denkt.
Und für mich ganz wichtig, dass die Organisation auch im Bereich Selbsthilfe und soziale Medien mit Ihrem Angebot präsent ist. Damit es die Möglichkeit gibt, so eine Art online-Selbsthilfe zu haben, z.B. eine Facebook-Gruppe. Dass man einfach fragen kann „Hey, mir geht es gerade so richtig schlecht, ist irgendwer da?“ Das müsste professionell angeleitet sein.
So in die Richtung müsste es aussehen, dass ich sage, das ist es, was ich machen möchte.
Was können Selbsthilfeorganisationen von Online-Aktivist*innen lernen? Und was kann die Mental Health Bloggerin von den Selbsthilfestrukturen lernen? Was braucht es?
Die jüngere Generation bringt mehr Leichtigkeit in die Themen und macht sie so „normaler“. Damit kommt man leichter an jüngere Leute ran. Offenheit können beide gebrauchen.
Blogger denken, sie müssen Einzelkämpfer sein. Dabei bräuchten sie mehr Rückhalt.
Gerade bei den Krankheitsthemen gibt es so viel Aktivität im Netz. Die Leute beschäftigen sich damit. Da ist richtig Potential, Energie und Willen. Das wird aber nicht kanalisiert. Im Internet geht es schnell verloren, verpufft.
Ich finde es schlimm, dass die Aktivitäten im Netz nicht professionell betreut werden. Wenn mir als Bloggerin Menschen von ihren persönlichen Krisen schreiben, habe ich nichts, wohin ich das auslagern kann. Da sind keine Profis, die ich zu Rate ziehen kann. Als Selbsthilfegruppe kann ich mich an die entsprechende Organisation wenden und um Supervision bitten. Das fehlt Bloggern. Das macht mir so Bauchschmerzen, wenn ich sehe, wie groß die Bereitschaft ist, bei Instagram über die Themen zu reden, sich zu öffnen. Das müsste in den Förderstrukturen auch auftauchen.
Im Internet gibt es auch viele schlechte Angebote…
Es gibt viele junge Frauen, die über ihre Selbstverletzungen oder über ihre Essstörungen schreiben. Da sehe ich eine Verantwortung bei den etablierten Organisationen. Sie müssten in den direkten Kontakt mit den Influencern gehen: „Uns ist aufgefallen, dass du problematische Inhalte ins Netz stellst, die negativen Einfluss auf andere haben. Wir machen dir das nicht zum Vorwurf. Wie können wir dich unterstützen, dass du anderen Inhalt erstellen kannst? Was für Hilfsangebote bräuchtest du? Sollen wir uns mal mit dir zusammen hinsetzen?“
Ich sehe die Not hinter solchen Inhalten. Die meisten wissen nicht anders damit umzugehen. Da sehe ich die Verantwortung bei den Profis, das abzufangen. Das braucht Ressourcen und Menschen, die sich im Internet auf die Suche nach solchen Inhalten begeben. Auf Instagram ist das ganz leicht zu finden.
Hashtags zu sperren, ist nicht die Lösung. Es muss ihnen mal jemand klarmachen, was sie für Schaden damit anrichten. Das wissen sie gar nicht, weil sie selber in so einer Not sind. Dass das alles nicht abgefangen wird, ist eine große Baustelle.
Könnte ein Portal mit wichtigen Informationen und Ansprechpartnern nützen?
Das versuche ich mit meinem Blog. Ich nutze die gleichen Hashtags, damit sie auch mal eine junge Frau auf dem Berg sehen zwischen all den runterziehenden Inhalten. Aber es ist wie in den analogen Medien auch: Negative Themen reißen mehr.
Instagram weiß um die Problematik, aber hat sehr spät angefangen, wirklich darauf zu reagieren. Sie haben sich jetzt mit Profis zusammengesetzt. Ich sehe ganz klar eine Verantwortung bei den Plattformen. Sie tun was, aber da ist noch viel Luft nach oben.
Welche Empfehlung hättest du an gemeinnützige Organisationen, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Angebote und Kommunikation auch in die sozialen Medien zu übertragen, die aber große Bedenken haben.
Ich empfehle, es einfach mal auszuprobieren! Instagram ist eine gute Einsteigerplattform mit einem freundlichen, unterstützenden Ton. Aus Angst nicht vertreten zu sein, ist fatal, weil dann das eigene Thema keinen Platz in den sozialen Medien hat. Oder andere Leute, die nicht so gute Beweggründe für ihr Engagement haben, holen die Leute ab und bringen sie in eine Richtung, die nicht gut ist.
Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand nur stänkern möchte. Außerdem gibt es Maßnahmen gegen Hasskommentare. Man kann die Kommentarfunktion ausschalten, „Öffnungszeiten“ auf Facebook festlegen oder Kommentare löschen. Man sollte sich vorher eine Reaktion überlegen, wenn ein Shitstorm über einen hereinbricht. Was gut funktioniert, ist Stänkerern mit Freundlichkeit begegnen.
Aus Angst soziale Medien nicht zu nutzen, kann meiner Meinung nach den größeren Schaden anrichten.
Prävention ist dein Herzensthema. Du gehst viel an Schulen und redest über psychische Gesundheit. Wo siehst du hier einen Auftrag für die Selbsthilfe?
Die Hälfte aller psychischen Krankheiten fängt vor dem 14. Lebensjahr an und nochmal 25 Prozent vor dem 18. Und es gibt keinerlei Prävention an Schulen. Das finde ich ganz fatal! Deshalb ist es mir ein Herzensanliegen. Ich wünsche mir zwei Stunden pro Woche das Unterrichtsfach „Leben“. Es gibt so viel, worauf die Schule einen nicht vorbereitet. Schulen müssen nicht alles selbst machen, aber sie können einen Raum für solche Themen schaffen und Experten einladen.
Aufgabe der Selbsthilfe ist es, über den Tellerrand zu schauen und aus den eigenen Kreisen hinauszutreten. Sie müssen ihre für sie selbstverständlichen Themen nach draußen bringen. Sich auf den Marienplatz stellen, Pressearbeit machen, einen Blog erstellen oder in Schulen gehen – einfach mal den eigenen Wirkkreis verlassen und das eigene Thema mehr in der Gesellschaft etablieren. Damit Betroffene nicht zehn Jahre lang denken, ich bin allein mit dem Thema, und sich eher Unterstützung holen.
Welche Pläne hast du?
Wir wollen Deutschlands erstes Mental Health Café eröffnen. – Einen Ort, wo man über das Thema offen reden kann, wo man hingehen und sagen kann „Mir geht es grad schlecht“. Wo man die Frage „wie geht es dir“ ehrlich beantworten darf. Wir wollen Veranstaltungen, Events und Workshops anbieten. – Aber das Ganze ein bisschen cool. Ein Café, wo es schön ist zu sitzen, mit guten Produkten. Dafür gibt es einen großen Bedarf, den wir auffangen wollen. Momentan arbeiten wir an der Finanzierung.
Wir wünschen euch viel Erfolg dabei! Herzlichen Dank für das Gespräch.
Foto: privat