
„Ich wusste gar nicht, dass es so viele Opfer gibt.“
Die Frage nach dem Beruf gehört bei Smalltalk dazu wie der Kommentar zum Wetter. Unter Smalltalk beim ersten Kennenlernen versteht man einen locker-flockigen Austausch. Nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Aber so einfach ist es für unsere Autorin Corinna nicht. Überraschte und negative Reaktionen hört sie oft. Daher hat sie immer ganz gute Antworten in petto. Aber als das Wort Opfer fällt ist sie zum ersten Mal sprachlos.
Eine Frage, die einfach dazu gehört.
„Und was hat dich nach Nürnberg verschlagen?“
„Ich bin für meinen Job hergezogen.“
„Ah okay, was machst du denn beruflich?“
Da ist sie wieder. Früher oder später wird diese Frage gestellt. Immer. Und eigentlich ist es ja auch schön, von seinem Job zu erzählen, vor allem wenn man ihn – so wie ich – gerne macht.
Aber unter „Beraterin in einer Selbsthilfe-Kontaktstelle“ können sich die Wenigsten etwas vorstellen und darum ist die Antwort auf die Frage eben meist auch mit einer Beschreibung von Selbsthilfe im Allgemeinen verbunden. Auch das ist ja nichts Schlechtes. Zugegeben, manchmal ist es etwas lästig, weiter ausholen zu müssen, gerade wenn es sich um spontane Begegnungen und Smalltalk handelt und man den Gesprächspartner voraussichtlich nicht so bald wiedersehen wird.
Die Vorurteile
Was mich allerdings stört, sind die Vorurteile, die dem Thema, aber auch dem Beruf entgegen gebracht werden. Und das ist gerade bei Leuten in meiner Generation besonders häufig. Erst neulich habe ich mit einer Schulfreundin zusammen gesessen und auf ihre Nachfrage hin erzählt, was wir als Kiss Mittelfranken so machen und auch erwähnt, dass sich unser Team vergrößert, weil es so viel zu tun gibt. Daraufhin war ihr Kommentar: „ Ich wusste gar nicht, dass es so viele Opfer gibt.“ Ich war sprachlos. Opfer? Mit diesem Begriff verbinde ich Hilflosigkeit und Schwäche, Tatenlosigkeit und Angst.
Aufräumen mit Vorurteilen
Aber Menschen in Selbsthilfegruppen sind keine Opfer. Sie sind stark, weil sie sich mit einem Thema auseinandersetzen, das sie beschäftigt. Sie sind mutig, weil sie sich anderen Menschen gegenüber öffnen und sich nicht verstecken. Sie sind engagiert, weil sie sich regelmäßig aufmachen, zusammenkommen und einbringen. Das zu verbreiten, ist meine Motivation. Gerade bei Leuten in meinem Alter. Und wenn ich sehe, wie sich das Bild von Selbsthilfe in dem einen oder anderen Kopf verändert und zu einem beeindruckten „Wow, das hätte ich nicht gedacht“ wird, macht es schon fast wieder Spaß mich zu rechtfertigen, wieso ich ausgerechnet diesen Job mache!
Corinna ist 29 Jahre alt und arbeitet seit 2016 beim Verein Selbsthilfekontaktstellen Kiss Mittelfranken e.V. Sie ist begeistert von der Wirkung der Selbsthilfe und freut sich vor allem, dass sich auch immer mehr junge Erwachsene in Selbsthilfegruppen zusammentun und tolle Projekte auf die Beine stellen.
Unique Content:
Der Artikel ist 2017 in dem kiss.magazin erschienen. Das Magazin wird von Selbsthilfeaktiven und Kiss Mitarbeiterinnen gestaltet und in gedruckter Version kostenlos verteilt.
Foto: Pexels